Lothar Häberle

Flüchtlingsschutz in Europa – hinreichend? Zur Lebensschutz-Dimension des Europäischen Asylsystems de lege lata und de lege ferenda

in: Zeitschrift für Lebensrecht (ZfL) 32 (2023), S. 151-179.

Wenige Fakten skizzieren ein sehr trübes Bild: stark gestiegene Flüchtlingszahlen weltweit (von 65 Mio. [inkl. Binnenflüchtlinge] Ende 2015 während der „Flüchtlingskrise“ auf 108 Mio. Ende 2022), 50.000 Tote seit 2014 auf Flüchtlingsrouten weltweit, davon allein im Mittelmeer mehr als 25.000 (bei großer Dunkelziffer), neben den typischen Herkunftsländern Syrien und Afghanistan nun auch die Ukraine und Tunesien. An diversen EU-Außengrenzen gibt es immer wieder Verstöße gegen das Refoulment-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Neben Gefährdungen auf der Flucht selbst gibt es derartige auch während des Asylverfahrens etwa in Lagern wie „Moria“ auf Lesbos oder monatelang in einem Flughafen in Moskau. Besonders vulnerable Asylbewerber gilt es einerseits rechtzeitig zu identifizieren, um ihnen bzgl. Unterbringung und Sensibilität während des Asylverfahrens genüge tun zu können, andererseits Missbrauch von Vulnerabilität erfolgreich zu bekämpfen. Die prinzipielle Unterscheidung zwischen Asyl und Arbeitsmigration ist wichtig, um so im bisherigen System Fehlanreize eindämmen zu können, auch wenn es de facto vielfach zur Vermengung beider, zum „Spurwechsel“, kommt. Völker-, Europa- und Staatsrecht haben de lege lata einige wichtige Mindeststandards des Flüchtlingsschutzes ausgebildet, die es auch in der EU und ihren Mitgliedstaaten einzuhalten gilt. De lege ferenda sollten die Reformpotenziale [siehe nächster Beitrag in EuR 2022, S. 755 ff.] zügig ausgeschöpft werden, da die hier vorgeschlagenen Reformen als „Zustrom-Bremse“ auch wesentlich der Migrationssteuerung dienen und gegenüber einer zahlenmäßigen Obergrenzen, die erhebliche Nachteile mit sich bringt, vorzugswürdig sind.