Lothar Häberle

08.07.2024

Statt Asyl-Missbrauch „Migrations-Ehrlichkeit“ fördern

Der Staat hat seine Bürger und alle Menschen, die mit diesem in Kontakt kommen, zum Guten zu orientieren, zumindest Gesetze und deren Anwendung so zu gestalten, dass sie nicht missbräuchlich sind. Jedoch sind die Dinge manchmal so vertrackt organisiert, dass etwas anderes herauskommt: staatliche Verführung zum Missbrauch. Ein harter Vorwurf. Doch das Asyl- und Migrationsrecht in Deutschland verführte zumindest 2015 genau dazu – zum Missbrauch. Wie konnte es dazu kommen? Gilt das fort? Und wie lässt sich Abhilfe schaffen?

Rechtsanspruch auf Prüfung eines Asyl-Begehrs

Wenn ein Ausländer mit einem Staat in Kontakt tritt und zu verstehen gibt, dass er Asyl begehrt, ist dieser Staat verpflichtet, dessen Begehr zu prüfen. Aufgrund der Genfer Flüchtlings-Konvention (GFK) von 1951, aber auch gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention oder der Grundrechte-Charta der EU ist es dem Staat untersagt, diesen Ausländer zurück zu stossen, auch wenn sein Grenzübertritt illegal erfolgt ist. Denn er könnte dort, wo er herkommt, unmenschlich oder gar mit Folter behandelt werden, alles Verstöße gegen die Menschenwürde. Solche „Pushbacks“ hat es in letzter Zeit u.a. durch Kroatien, Polen und Griechenland gegeben. Selbst das Aufgreifen von offensichtlichen Flüchtlingen im Mittelmeer, deren Verbringen nach Libyen und Überstellen an dortige Behörden durch Offiziere eines Schiffs der italienischen Küstenwache führte 2012 zur Verurteilung Italiens durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Denn wenn italienische Offiziere handeln, ist der Staat Italien tätig, selbst auf hoher See, befand zu Recht der Gerichtshof. Jeder, der das Wort Asyl ausspricht, hat das Recht auf eine faire Prüfung seines Ansuchens, „Pushbacks“ verhindern das ausnahmslos – bis heute ein allzu wunder Punkt an den EU-Aussengrenzen.

Mit der GFK sollte durch die Gewährung von Asyl die Not von politisch Verfolgten gewendet werden: Danach ist Flüchtling, wer bei begründeter Furcht vor Verfolgung, mithin einer zielgerichteten Ausgrenzung seiner Person (oder Gruppe), in seinem Land in eine ausweglose Lage gebracht ist oder zu werden droht. Dadurch ist ihm der Verbleib in seinem Staat wegen Bedrohung von Leib, Leben oder Freiheit unzumutbar. Bürgerkriegsflüchtlinge etwa würden jedoch nicht hierunter fallen, befinden sich allerdings oft auch in unzumutbaren Situationen. Ihnen kann deshalb subsidiärer Schutz gewährt werden. Neben diesen beiden Schutz-Kategorien gibt es noch die der – oft langfristigen – Duldung: Aus verschiedenen und schwerwiegenden Gründen dürfen oder können selbst abgelehnte Asylbewerber nicht abgeschoben werden. Eine spezielle Regelung gibt es für die aufgrund des Ukraine-Kriegs kommenden Flüchtlinge: Ohne individuelle Prüfung erhalten sie ein zeitlich begrenztes Aufenthaltsrecht in der EU.

Die Logik von Asyl: Befristung des Aufenthalts

Mit der humanitären Handlung der Asylgewährung reagiert der Staat auf eine massive persönliche Notlage eines Asylbewerbers mit einem Aufenthaltsrecht während der Prüfung des Asylantrags – in den ersten Monaten ohne Arbeitserlaubnis, dafür aber mit staatlicher Sozialhilfe. Auch nach Anerkennung des Antragstellers bleibt sein Aufenthaltsrecht befristet. Je nach Schutzstatus wird in unterschiedlicher Frequenz überprüft, ob die Gefährdungssituation in seiner Heimat noch so ist wie bei Antragstellung. Die Feststellung, dass die Gefährdung überwiegend oder ganz entfallen ist, müsste zur Aufenthaltsbeendigung führen. Soweit die rechtliche Lage – allzu oft jedoch nur Theorie. In der Praxis gelingen Abschiebungen selten. Soweit dies mangelnder Rechtsdurchsetzung geschuldet ist, gilt es, für Verbesserungen zu streiten. Denn die humanitäre Aufnahme von Verfolgten ist ihrer Natur nach befristet, nicht zuletzt im Interesse derjenigen, die später einer ähnlichen Notwendigkeit unterliegen und derartige Plätze benötigen werden. Zudem wird es in weiten Teilen der Bevölkerung auch Westeuropas – von Mittel- und Osteuropa ganz zu schweigen – nicht akzeptiert, wenn aus Flüchtlingen allzu oft unter der Hand Neubürger werden. Der Aufschwung rechtspopulistischer Parteien in mehreren Staaten gibt davon beredt Zeugnis.

Arbeitsmigration folgt anderer Logik

Ganz anderer Logik als der des Asyls folgt die Arbeitsmigration: Über deren Zulassung entscheidet jeder Staat nach seinem Interesse (etwa zur Abhilfe bei Mangelberufen) und definiert dafür die „Spielregeln“, in Deutschland etwa mit der Einführung der Blauen Karte für Höherqualifizierte vor einigen Jahren sowie mit dem Fachkräfte-Einwanderungsgesetz (FEG) und dessen Erweiterungen 2023/24. Während die Aufenthaltsdauer beim Asyl prinzipiell von der Gefahrensituation im Herkunftsland abhängt und deshalb zeitlich begrenzt ist, hängt diese bei Arbeitsmigration am Arbeitsplatz und ist grundsätzlich unbefristet.

Die Logik von Asyl und Arbeitsmigration ist also völlig unterschiedlich. Dennoch folgt die Realität aus zwei Gründen dieser klaren Logik allzu oft nicht: Denn erstens droht ohne Arbeit die menschliche Entwicklung besonders eines jüngeren Geflohenen – der zudem von seinem bisherigen sozialen Umfeld getrennt ist – zu verkümmern. Das kann heikel sein, da Menschen in solchen Umständen bekanntlich ein großes Reservat etwa für Islamisten darstellen. Zweitens will sich der Staat zu Recht die Sozialhilfe ersparen, denn diese soll ja nur eine vorübergehende Not-Hilfe sein. Deshalb erhalten Asylbewerber und Geduldete bereits nach drei Monaten und anerkannte Flüchtlinge sowie Inhaber subsidiärer Schutzberechtigung ohne jede Einschränkung Zugang zum Arbeitsmarkt.

Wer – wie 2015 so mancher in Deutschland – meint, mit Geflohenen die Arbeitsmarktprobleme seines Landes lösen zu können, verkennt die Realität, denn allenfalls zufällig passt die Qualifikationsstruktur, die die Fliehenden mitbringen, auf die, die im jeweiligen Land gebraucht wird. Das Problem der Mangelberufe kann extern nur durch gezielte Anwerbung gelöst werden (und intern durch ebenso gezielte Bildung bzw. Ausbildung im eigenen Land) sowie durch Anhebungen der Besoldung bisheriger Mangelberufe.

Zurück zum Hauptthema: Gegen einen unbegrenzten „Spurwechsel“ – Mutation vom Asylbewerber zum Arbeitsmigranten – gibt es gute Gründe, denn er stellt große Anreize dar, dass der Flüchtlingsstatus zweckwidrig genutzt wird. Perspektivlosigkeit und Armut entfliehen zu wollen, ist legitim. Genauso legitim ist es aber, wenn ein Staat sich nur für die humanitären Härtefälle, aber nicht für alle von potenziellen Arbeitsmigranten gewünschten Verbesserungen zuständig sieht. Weder ist er das, noch könnte er die damit verbundenen Erwartungen erfüllen.

Verführung zum legalen Asyl-Missbrauch

Ein eindrucksvolles Beispiel für Asylmissbrauch in Deutschland brachte Gerald Knaus (in seinem Buch „Welche Grenzen brauchen wir?“): Um 2010 herum kamen aus dem Westbalkan besonders viele Asylbewerber, obwohl deren Anerkennungsquote nur bei 0,2 % lag. Wieso kamen sie trotzdem? Nach dem Zusammenbruch der ehemals sozialistischen Industrie waren die wirtschaftlichen Verhältnisse dort fatal, während die Asylbewerber in Deutschland, wie sich herumsprach, kostenlose Unterkunft, medizinische Versorgung und finanzielle Unterstützung erhielten – auch wenn objektiv nicht viel, war es doch ein Vielfaches dessen, was ihnen in ihrer Heimat zur Verfügung gestanden hätte. Eine unwiderstehliche Einladung! Da die Asylverfahren damals viele Monate dauerten, wirkte das wie ein längeres Stipendium. Das war staatlich organisierte Verführung zum legalen Asyl-Missbrauch durch offensichtlich unbegründete Asylanträge. Die Behörden haben zwar langsam, aber dann doch richtig reagiert … und konnten sich dabei an der Schweiz orientieren, die sich auf ähnliche Vorkommnisse schneller einstellte: Die Verfahren aus dieser Gegend wurden vorgezogen und damit beschleunigt – schon fielen die Asylgesuche auf ein Sechstel, später sogar auf nur noch 5 % ihres Höchstwerts. Mit der „Westbalkanregelung“ schliesslich wurde für diese Länder ein legaler Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt geschaffen. Entscheidend aber war die Beschleunigung der Asylverfahren – Asylmissbrauch wird gezüchtet durch langdauernde Asylverfahren in Kombination mit relativ hohen Leistungen für Asylbewerber.

„Migrations-Ehrlichkeit“ durch richtige staatliche Signale fördern

Nicht nur 2015/16 mischten sich unter die wirklich Asyl-Suchenden viele, die zwar einen Asylantrag stellten, aber eigentlich als Arbeitsmigranten Arbeit suchten. Derart vorgeschobene Asylanträge haben ein humanitär wichtiges Instrument stark überlastet und zu erheblichen Teilen zweckentfremdet. Damals fehlten Möglichkeiten zur legalen Migration. Mit dem FEG und dessen Erweiterungen sind dazu in Deutschland wichtige Schritte gemacht worden. „Migrations-Ehrlichkeit“ – einen Asylantrag stellt nur, wer zumindest subjektiv überzeugt ist, dafür gute Gründe zu haben – bekommt so mehr Chancen, sich auch dauerhaft durchzusetzen.

Die Stimmigkeit der Signale ist Aufgabe der Politik, mithin der EU und deren Mitgliedstaaten, daneben auch der Schweiz, für die u.a. durch die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen Teile der EU-Asylpolitik verbindlich sind. Trotz Verbesserungen seit 2015 ist das EU-Asylsystem nicht zukunftssicher und wäre einem Ansturm wie damals wieder nicht gewachsen. Einige Vorschläge der EU-Kommission brächten Verbesserungen, andere sind nicht konsequent genug, wieder andere missachten die Interessen einiger Mitgliedstaaten. Durch das im Rat der EU praktizierte Paketverfahren waren alle lange Zeit politisch blockiert. Die 2024 abgeschlossenen Reformen stellen zum Teil Verbesserungen dar, aber nur halbherzige, keineswegs hinreichende.

Angesichts der Krisenherde in der Welt – Ukraine, Sudan und viele mehr – drängt die Zeit speziell auch für Europa, mit einer systematisch reformierten Asylpolitik potenziellen Flüchtlingen gerecht werden zu können, ohne dadurch die Staaten und die EU zu destabilisieren. Beides zugleich ist möglich, wenn es rechtzeitig angegangen wird.